Erfahrungsberichte aus Whitstable
Whitstable: Franziska Hoppen
Hallo an iSt und alle anderen, die vielleicht noch mit sich ringen, ob sie ein Jahr in England verbringen sollen oder doch am anderen Ende der Welt oder am Ende lieber zu Hause brüten würden. Hiermit möchte ich Euch allen bei der Entscheidung helfen! Es gibt viele gute Gründe, warum man mindestens einmal England live und hautnah mitbekommen haben sollte! Höchstwahrscheinlich bin ich aber sehr voreingenommen, weil ich dort die besten sieben Monate meines bisherigen Lebens hatte. Es ist nun etwas über ein Jahr her, dass ich am 3. September von Düsseldorf nach Heathrow flog. Sechs Monate zuvor fing ich glaube ich an, den Koffer zu packen, nervös zu sein und mich zu fragen, wie ich auf so eine verrückte Idee kommen konnte... Als ich leicht nervös, zerzaust und völlig verwirrt vom vielen Englisch bei meiner Gastfamilie in Whitstable, nahe Canterbury ankam, musste ich ordentlich staunen. Das typisch englische Haus hatte mehrere Palmen im Vorgarten (von wegen schlechtes Wetter!) und einen wunderschönen Blick aufs Meer und den Kiesstrand. Zwei kleine Kinder und deren Eltern, Elvis der Kater und zwei Goldfische begrüßten mich stürmisch und herzlich. Sie waren eine tolle Gastfamilie, doch leider musste ich sie, wegen veränderten Familienverhältnissen, nach Weihnachten wieder verlassen. Das war schade, aber die zweite Gastfamilie war ebenso charming, freundlich und „easy going“. Für Heimweh war niemals Zeit, im Gegenteil. Die Gastkinder hielten mich ordentlich auf Trab und nahmen kein Blatt vor den Mund, um mein Englisch zu korrigieren. Nach einer Woche hatte ich mich komplett eingelebt und fühlte mich pudelwohl, auch wenn alles sehr unterschiedlich zu unserem deutschen Haushalt war: Hygiene spielte eine kleinere Rolle, im Gegensatz zum leiblichen und familiären Wohl! Essen war prinzipiell „organic“, schrecklich gesund, aber umso leckerer (meine Vorurteile wurden nicht bestätigt) und ein „continental breakfast“ war kein Problem. (Fallt aber niemals auf diese kleinen Scheiben rein, die aussehen wie Schwarzbrot, das ist gebratene Blutwurst…) Abends sahen wir oft mit einem Cadbury Kakao mit Minzgeschmack gemeinsam fern und wärmten uns am Kamin, den prinzipiell jedes Haus hat. Ansonsten kann ich von meiner Familie berichten, dass sie mich völlig ins Familienleben integrierte, immer für mich da war und sich herzlich kümmerte! Die Kinder waren jedoch bis vier Uhr in der Schule – ebenso wie ich – und wenn sie abends heim kamen oft müde und entnervt. Aber mit einer Folge „Doctor Who“ und leckeren „fishfingers“ konnte man sie wieder friedlich stimmen. Anfangs ist es ungewohnt mit dem Englischen umzugehen, denn wir deutschen Grammatik-Asse beherrschen zwar korrekte „if-sentences“, aber der lebensnahe Umgang ist uns fremd. Doch nach spätestens einer Woche hat man sich an die Sprache gewöhnt und kommt sehr gut mit! An meinem dritten Tag in England begann die Schule für mich. Was für ein Chaos, ich brauchte bestimmt zwei Monate, um mich völlig eingewöhnt zu haben. Lehrer werden prinzipiell nur mit Titel angeredet, alle Schüler, bis auf die letzten beiden Jahrgänge, sehen, dank Uniform, gleich aus, alle 35 Minuten war eine Pause, die von 20 Minuten bis zu eineinhalb Stunden variierte, es gab alle Nase lang „assemblies“, es wurde gemeinsam gesungen, gebetet, Vorträgen gelauscht, es gab unterschiedliche Häuser wie bei Harry Potter, es gab „common rooms“ mit Fernsehern, Geldsammelaktionen, um Schulen in Afrika zu bauen und wann immer es einen Feiertag gab, wurde gefeiert. Meine Schule ( Archbishop´s School of Canterbury) war eher religiös ausgerichtet und äußerst sozial. Neben fachlichem Wissen wurde soziales Engagement ganz groß geschrieben. Die Lehrer wussten alles über ihre Schüler, mutierten zu „agony aunts“, trösteten hier, sorgten sich dort, erzählten Witze die ganze Mathestunde lang mit irischem Akzent, organisierten Feiern, opferten ihre Lunchtime für uns. Ich war mit fünf anderen Deutschen auf dieser Schule mit insgesamt 1.000 Schülern. Ich muss gestehen, dass wir Deutschen sofort zusammen fanden und wesentlich mehr untereinander machten, als mit Engländern, trotzdem habe ich noch heute Kontakt zu einigen englischen Freunden und es hat unserer Sprache nicht geschadet. Wir wurden alle sehr, sehr freundlich und mit viel Geduld aufgenommen. Die englischen Schüler kümmerten sich rührend um uns! Nach ungefähr zwei Wochen ist man als Deutscher Klassenbester, ohne großen Aufwand. Die Engländer lernten von uns die richtigen „if-sentences“ und zeigten uns im Gegenzug, wie man einen „haircrimper “ richtig bedient. Besonders erinnere ich mich an Weihnachten, als Lehrer wie Schüler gemeinsam „Roast Dinner“ zu sich nahmen, an Knallbonbons zogen und Kronen und Hüte trugen und schottische Weihnachtslieder schmetterten. Die Schule war toll, auch wenn sie von 8:50 Uhr bis 15:40 Uhr ging. Wir Deutschen haben es dennoch genossen, vor allem verrückte Aktionen, in denen sich das männliche Lehrerkollegium als Frauen verkleidete und zu den „Black Eyed Peas“ in kurzen Röcken und Perücken um Geld „Streetball“ spielte. Außerdem sind alle sechs Wochen elf Tage Ferien angesagt, die man sehr gut zum Herumreisen nutzen sollte. Nach der Schule gingen wir oft mit englischen Freunden nach Canterbury in die Stadt, gönnten uns „Fish’n Chips“, shoppten durch die Klamottenläden, durch runzlige, staubige Bücherläden, ließen uns das Wasser im Mund zusammen laufen, wenn wir vor einer „Fudge-Bar“ standen, oder bloß bei M&S vor der Kühltheke. Manchmal zogen wir uns auch Kultur zu Gemüte und davon hat England wirklich genug: Burgen und Castles, wo man hinschaut, Gemäuer, die aus anno dato stammen und die Römer, die überall ihre Spuren hinterlassen haben. England hat eine lange, spektakuläre Geschichte, die sich deutlich im Nationalstolz widerspiegelt! Auf der Insel muss man sich als Deutscher an eine Menge Tradition gewöhnen, wie z.B. die Feierlaune, die roten Busse, die jegliche Verkehrshinweise übersehen, den englischen Stolz, die Liebe zu schwarzem Humor und allem, was dick macht. Was ich jedoch am meisten hier in Deutschland vermisse, ist die Freundlichkeit, Offenheit und der nie verebbende Optimismus der Engländer. Die englische Höflichkeit und Freundlichkeit gab mir sehr, sehr schnell ein besonderes Gefühl der Geborgenheit, ließ mich kein Heimweh bekommen oder resignieren. An der Bushaltestelle war stets Zeit für einen kleinen Plausch, der Milchmann pfiff morgens die Nationalhymne, wenn man verloren aussah, eilten gleich mehrere zu Hilfe. Eine unangenehme Sache gilt es jedoch noch zu erwähnen: England ist ordentlich teuer. Ein Jahr später vermisse ich England immer noch und nenne es fast Heimweh. Die sieben Monate haben mich sehr bereichert. Dass man dort drüben auch Englisch lernt, bemerkt man nur nebenbei, viel mehr erlebt man die eigene Selbstständigkeit, Erfahrungen und trockenen Humor. God save the Queen! Franziska Hoppen Whitstable, England