Die Tage vor meinem Abflug waren voller Packstress (wie soll man als Frau nur mit zwei Koffern ein halbes Jahr auskommen?!) und Verabschiedungen. Allein die Vorstellung, ganz allein in einem fernen Land zu leben, war ein Albtraum. Ich wollte nichts lieber als zu Hause bleiben, doch zum Glück habe ich mein Muffensausen überwunden und bin dann schließlich in dem schönen Victoria auf Vancouver Island gelandet, zusammen mit einer Truppe von Schülern in meinem Alter, denen es bestimmt so ähnlich ging wie mir. Ich erinnere mich noch genau an den Augenblick wie ich ganz aufgeregt in die Empfangshalle ging, wo schon meine Gastmutter Laura wartete. Ich hatte zwar schon ein Foto von ihr gesehen, doch sie dann „live“ zu sehen, war doch nochmal etwas ganz anderes. Meine Koffer warteten leider nicht auf mich und so war ich nun in einem fremden Land bei einer fremden Familie ohne meine Koffer. Aber ich war keineswegs beunruhigt, sondern wusste schon, dass sie ankommen würden. Meine Gastschwestern – Lola war damals drei und Gigi fast fünf – waren anfangs sehr schüchtern, doch haben sich dann schnell an mich gewöhnt. Am nächsten Tag lernte ich mein erstes Wort: „Ticklish“ als Gigi ganz enttäuscht feststellte, dass ich ja gar nicht kitzelig bin. Die restliche Zeit war ich die Pegasus Mummy und sie waren die little Pegasuses. Mich in Kanada einzugewöhnen hat nicht wirklich lange gedauert. Nur meinen Gastvater, der einen leichten Akzent hat, konnte ich nicht gleich so leicht verstehen. Dementsprechend wandte ich die Strategie „nicken und lächeln“ an, wenn ich selbst nach dem dritten Nachfragen nicht verstand, was er wissen wollte. Das waren dann meist so Fragen wie „möchtest du Orangensaft oder Milch trinken“. Zum Glück konnte ich ihn nach einigen Tagen schon viel besser verstehen! Außer mit meinem Gastvater hatte ich von Anfang an kaum Probleme mit der Kommunikation. Im Gegenteil, mir wurde immer gesagt, dass mein Englisch ja sooo toll sei, auch wenn ich das nicht wirklich nachvollziehen konnte. Auch stimmten die Erwartungen von meiner Gastfamilie nicht wirklich mit der Realität überein. Ich hatte erwartet, dass sie mich jedes Wochenende „bespaßen“ und mir alles Mögliche zeigen, doch haben meine Gasteltern dafür keine Zeit, weil sie viel arbeiten. Dies soll aber nicht heißen, dass ich mich nicht dort wohlgefühlt habe, im Gegenteil. Ich kann mir keine Gastfamilie vorstellen, die besser sein könnte als meine! Schwieriger war es für mich anfangs, Kontakt zu Gleichaltrigen zu finden. Ich ging zur Claremont Secondary School, die ich mir vorher ausgesucht habe. Dort hatte ich zwei Kurse (Math PM und Chemistry) im Jahrgang 12, doch wollten diese Mitschüler nur wenig mit mir zu tun haben. Meine Freunde fand ich in meinen Kursen aus Jahrgang 11, English und Outdoor Pursuits. Anfangs hatte ich ständig das Gefühl, dass sie denken, ich sei wie eine Klette, doch lag ich damit völlig falsch. Ich lernte aber auch neue Freunde kennen, indem ich in der Rugby Mannschaft meiner Schule mitgespielt habe. Ich kann nur jedem empfehlen, möglichst viel in den Schulmannschaften mitzuspielen, egal ob man die Sportart kennt oder nicht. Auf diese Weise ist es viel einfacher, Kontakte zu knüpfen. Nachdem ich nun „endlich“ Freunde gefunden habe – es dauert schon einige Wochen – waren die Lunchpausen nicht mehr so einsam und ich hatte nun auch am Wochenende immer etwas vor. Von meiner Wohngegend konnte man binnen weniger Minuten zum Strand gehen, oder zum Joggen in einem Wald, oder in die Innenstadt fahren. Die Landschaft in Victoria gehört zu den Dingen, die ich am meisten vermisse. Dieser Mix aus unberührter Natur und Stadt ist einfach atemberaubend und einzigartig. Besonders die Tage am Strand zählen zu den schönsten Erinnerungen. Dort haben wir mithilfe einer Potato Canon ein 2 cm dickes Stück Holz durchgeschossen. Aber auch Skimboarden wurde mir beigebracht, was mehr schlecht als recht klappte. Immer wieder wurden auch Internatonal Student Trips für alle Austauschschüler von Claremont, Stelly’s und Parkland angeboten, darunter auch ein Whale Watching Trip, ein Ausflug nach Vancouver und ein Wochenende in einem typischen Feriencamp. Jeder Ausflug hat sich gelohnt und bot neue Erfahrungen und Kenntnisse. Auf diesen Trips lernte ich schließlich auch meine beste Freundin Mila aus Brasilien kennen. Seitdem unternahmen wir fast jedes Wochenende etwas miteinander und waren immer füreinander da. Noch heute zählt sie zu meinen besten Freunden, weil sie mich auf eine andere Weise kennt, als meine Freunde hier und weil ich weiß, dass wir aufgrund unserer gemeinsamen Erinnerungen eine ganz einzigartige Verbindung haben. Dies gilt auch für den Rest meiner Freunde aus Kanada. Immer noch stehen wir in Kontakt, zwar nicht regelmäßig, weil jeder in seinem Alltag wenig Zeit hat, aber dafür trotzdem intensiv. Ich weiß, dass meine Freunde, die ich in Kanada kennengelernt habe, Freunde fürs Leben sind! Und nichts wird daran etwas ändern können, auch nicht die tausende Kilometer Distanz. Die Schule stellte für mich keinerlei Problem dar. In Mathe habe ich so gut wie nichts Neues gelernt, dafür aber umso mehr in Englisch und Chemie. Mein absolutes Lieblingsfach ist und bleibt aber Outdoor Pursuits. Dieses Unterrichtsfach ist ähnlich wie Sport, nur dass wir viel wandern waren. Unser Unterricht bestand meist daraus, dass wir mit dem Schulvan zu einem Berg gefahren sind (und dort gibt es viele hohe Berge), den wir dann einmal hoch und wieder hinunter gewandert sind. Aber auch Lazer Tag, Bowling, Fahnenklau, Jurassic Park, Kanu fahren, Minigolf, Ice Cream Hikes, American Football und Yoga standen auf dem Programm. Das Highlight dieses Kurses war ein Camping Trip durch den tiefen kanadischen Busch, der fünf Tage lang dauerte. Dieses Erlebnis war das Anstrengendste aber auch eines der Schönsten von alle. Ich bin so stolz auf mich, den
Juan de Fuca Marine Trail, den wir gelaufen sind, zu Ende gebracht zu haben. Ich bedaure jeden tristen und langweiligen Schultag, dass es in Deutschland dieses Schulfach leider nicht gibt. Der schlimmste Tag in Kanada war für mich der Abreisetag. Schon Wochen vorher konnte ich vor lauter Kummer nicht schlafen. Am Abreisetag selbst liefen mir die ganze Zeit Tränen das Gesicht hinunter und Lola und Gigi lagen heulend in meinem Arm. Selbst heute fast 1 ½ Jahre nach meiner Rückkehr vermisse ich mein zweites Zuhause, meine Freunde und meine Familie dort drüben so stark, dass ich mir nichts stärker wünsche, als dorthin zu fliegen und dort für immer zu leben. Meine fünf Monate waren die beste Zeit meines Lebens, jedoch vergingen sie viel zu schnell. Ich habe mich selbst viel besser kennengelernt und es tat einfach gut, neu zu starten, ohne dass einen jemand kannte. So ein Auslandsjahr lohnt sich auf alle Fälle und du wirst es auf jeden Fall in guter Erinnerung behalten!!!! Emily Meyer Claremont Secondary School, Sidney, British Columbia 2007