Als ich mit dem winzigen Flieger in Victoria landete und auf meine Gastfamilie traf, war ich nur noch müde und erschöpft von dem langen Flug, sodass ich diesen Moment gar nicht realisieren konnte. Meine Gastfamilie war aber total nett und verständnisvoll mit dieser energielosen Variante von mir und so habe ich mich schon auf dem Weg in mein neues Zuhause gut aufgehoben und wohl bei ihnen gefühlt. Am nächsten Tag ging’s dann gleich völlig verjetlagt in die Schule. Ich habe die Claremont Secondary School in Cordova Bay besucht, die gleich bei mir um die Ecke lag, sodass ich morgens erst dann aufstehen musste, wenn andere Leute ihren Schulbus nahmen. In der ersten Woche hat mich das (im Nachhinein doch nicht so) weitläufige Schulgelände heillos überfordert. Doch da es in Claremont so unglaublich viele Menschen gibt, die ihr Geld damit verdienen, uns Internationals einen schönen Aufenthalt zu ermöglichen, habe ich mich sofort wohl gefühlt. Der Stundenplan von meinem ersten Tag ließ sich problemlos ändern und so hatte ich bald meine Wunschfächer zusammengewählt: Block 1: Psychology 11, Block 2: Pre-Calculus 11, Block 3: Dance Beginners und Block 4: Photography. Ihr seht, die Fächerauswahl an kanadischen Schulen ist einfach der Wahnsinn. Die Fächer sind täglich in der gleichen Reihenfolge, was ich zuerst langweilig fand. Es hat mich zum Beispiel genervt, dass ich in Photography immer müde vom Tanzen war oder dass ich in Pre-Calc schon immer eher an mein Mittagessen gedacht habe als an Sinus, Tangens und Cosinus. Auch die Stundenlänge (80 Minuten am Montag, Dienstag und Donnerstag, 73 am Mittwoch und Freitag) ging zu anfangs auch über meine Konzentrationsspanne hinaus, aber das ist alles Gewöhnungssache. Irgendwann habe ich diese Routine richtig lieb gewonnen und 80 Minuten waren fast zu kurz für all die netten Geschichten über die Kinder meiner Lehrerin in Psychology und das Choreographieren unseres eigenen Tanzes in Dance. Dadurch, dass die Lehrer so viel Zeit haben, ihren Stoff zu vermitteln, waren sie auch so sehr viel entspannter als in Deutschland. Der Umgang mit ihnen ist viel persönlicher, was bestimmt auch daran liegt, dass es im Englischen keine Sie-Form gibt. Meine verrückte Tanzlehrerin habe ich zum Beispiel mehr als Freundin angesehen und auch, wenn die Stunde mit kursinternen Diskussionen über die Staffelfinals diverser Serien begann, haben sie alle respektiert. Es hat mich richtig gefreut, dass es auch so gehen kann, wo doch einige deutsche Lehrer denken, ihre Autorität wäre untergraben, wenn ich ihren Vornamen kenne. Die Sache mit den Freunden war nicht einfach und ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich das unterschätzt habe. Auf meiner Schule wimmelt es von Austauschschülern aus allen Ecken der Welt, weswegen es den Kanadier mäßig interessiert, dass du auch einer von denen bist, die hier ihren Spaß haben und dann nach ein paar Monaten eh wieder nach Hause verschwinden. Da muss man dann einfach hartnäckig sein, viel, viel Smalltalk machen und sich dann und wann auch mal irgendwo selbst einladen. Mit den Internationals war das ganz anders. Alle sind in der gleichen Situation, machen die gleichen Heimweh-Phasen und Verständnisprobleme durch wie du, finden es auch affig, dass die Kanadier selbst ihr Brot einfrieren und haben weder Freunde noch ihre Familie in diesem wunderschönen Land. Vor allem mit den Deutschen war es einfach, sich anzufreunden. Da kommt ja noch die gemeinsame Muttersprache und Kultur hinzu. Es gibt viele, die sich negativ dazu geäußert haben, dass es gerade an den Schulen in BC so viele Austauschschüler gibt, aber ich fand es toll. Somit habe ich nicht nur Kanada besser kennen gelernt, sondern auch Brasilien, Japan, Spanien, Mexiko, China... und Deutschland auch. Und es ist wundervoll zu wissen, dass sich deine Freunde aus den verschiedensten Ländern der Welt kommen, es aber trotzdem funktioniert. Wenn ich an die Zeit in Kanada zurückdenke, dann vergesse ich oft, wie schwer es am Anfang war. Es war hart, als mir in der ersten Zeit klar wurde, wie alleine ich bin. Meine Gastfamilie war toll, aber natürlich hatten auch sie Jobs oder mussten für die Uni pauken, hatten also nicht 24/7 Zeit dafür, mich zu bespaßen. Ich hatte auch schon von Anfang an Kontakt zu Deutschen, anderen Internationals und auch Kanadiern, doch echte Freundschaften brauchen mehr Zeit zum Entstehen als nur ein, zwei, drei Wochen. Meine Freunde, meine Familie waren zu Hause, in Deutschland, und skypen ist nicht das gleiche wie eine feste Umarmung. Es braucht Geduld und Durchhaltevermögen, sich ein Leben ganz neu aufzubauen und es fordert eine Menge Selbstvertrauen und Mut. Doch es lohnt sich: Denn klitzekleine Dinge, wie dass mich jemand aus meinem Tanzkurs auf dem Flur gegrüßt hat oder dass mein Gastvater mich verstanden hat, als ich nach dem Staubsauger gefragt habe, haben mich glücklich und stolz gemacht. Irgendwie war jeder Tag aufregend, auch, als lange der Alltag eingekehrt ist. Mir ist aufgefallen, wie einfach mein Leben in Deutschland ist und habe gemerkt, wie wichtig meine Familie für mich ist und wen meiner Freunde ich echt vermisst und an wen ich kaum gedacht habe. Wer sich gemeldet hat und wer nicht. Ich habe Deutschland aus einer anderen Sichtweise kennengelernt und es sind mir Leute wichtig geworden, von deren Existenz ich vor ein paar Monaten noch nichts wusste. Mir ist aufgefallen, dass Reisen das Beste ist, was ich machen kann. Victoria, BC ist kein Punkt auf der Landkarte mehr, sondern ein zweites Zuhause. Es war wohl die beste Entscheidung meines Lebens, einen Schüleraustausch zu machen, und ich kann euch nur empfehlen, auch euer nettes kleines Leben in Deutschland hinter euch zu lassen und hinaus in die Welt zu spazieren, um dort ein ganz neues zu finden.